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Aus der Welt der Literatur



2004-06-04
Lerchenherzen (Margaret Skjelbred; Deutscher Taschenbuch Verlag, München; ISBN 3-423-24176-4)

Lerchen steigen in sinnverwirrendem Tanz in die Höhe, ihr Gesang erfüllt die Feldmark. Doch nach Jubilieren ist den kleinen Geschöpfen nicht zumute. Wenn sie ins Kraut, ins Korn zurücksinken, laufen sie geduckt - mit klopfendem, bangem Herzen - zu ihrem versteckten Gelege zurück, von dem sie durch ihr auffälliges Verhalten alle Feinde und Räuber ablenken wollen.
Geradezu wie ein Gleichnis mutet der Titel des Buches an. Das Leben einer Handvoll Mädchen, vom Glück wohlbehüteter Kindheit in ländlicher Idylle bis hin zur Frau und Mutter, eingebettet in die wechselvollen Geschehnisse, die das Dasein, insbesondere für Frauen, bereithalten kann. Dies ist die generationenübergreifende Geschichte, die uns die norwegische Autorin aus ihrer Heimat erzählt. Und ihr gelingt das in großartiger, bewegender, mitunter auch schmerzvoller Weise.

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Textauszug:

Und allmählich vermißt Mathilde sie, wenn sie wieder weg ist, so sehr, daß sie anders als sonst und nicht mehr sie selbst zu sein scheint. Es ist, als brüte sie vor sich hin, als wünschte sie das kleine Mädchen ungeduldig zurück, obwohl sie sich so wenig um Ragnhild kümmert, wenn sie auf dem Hof ist.
Und Ragnhild ist ein friedliebendes und vernünftiges Kind, das nur selten den Zorn der Erwachsenen auf sich zieht, weder zu Hause noch auf As. Nur ein einziges Mal knallt es, da bekommt sie von Mathilde eine schallende Ohrfeige.
Das passierte eines Tages Anfang Mai. Sie hatten den Kuckuck gehört, und Ragnhild erhielt die Erlaubnis, barfuß zu gehen. Glücklich streift sie umher und sammelt die Tannenzapfen und kleine Äste vom letzten Jahr für ihren Bauernhof, den sie mitten auf dem Hofplatz aufbaut. Kühe und Kälber, Schweine und Schafe nehmen unter ihren geschickten Händen Gestalt an. Aber sie hat kein Pferd. Keiner der Zapfen ist groß genug, um ein Pferd sein zu können. Da fällt ihr das schön geschnitzte Pferd auf der Anrichte in der guten Stube ein, barfuß stapft sie dorthin, holt sich das Pferdchen und trägt es ehrerbietig hinaus zu den anderen Tieren. Sie setzt es auf einen flachen Stein, damit ihm nichts geschieht und bewegt die Kälber und die Schafe hin und her, leise vor sich hinsummend.
Da kommt Mathilde vom Hühnerstall. Als sie das Pferd sieht, setzt sie den Eierkorb so hart ab, daß einige Eier zerbrechen und dann gibt sie Ragnhild eine Ohrfeige, daß es knallt. Sie zischt: "Das Pferd wird nicht angefaßt", nimmt es, schnappt sich den Eierkorb und marschiert wütend ins Haus. Das Mädchen sitzt da, wie gelähmt.
Nach einer Weile erhebt Ragnhild sich, bleibt stehen und schaut sich verwirrt und unsicher um, ehe sie traurig vom Hof schleicht. Auf bloßen Füßen geht sie den ganzen langen Weg nach Hause. Unterdessen denkt sie, daß sie nun niemals mehr nach As kommen kann. Dieser Gedanke trägt zusammen mit den wunden Füßen dazu bei, daß ihr die Tränen in einem fort über die Wangen laufen, so daß sie mit streifigem Gesicht und Blasen an den Füßen in das Spektakel zu Hause zurückkehrt. Viele, viele Tag lang singt sie nicht.
Mathilde hat das Pferd auf seinen Platz auf der Anrichte gestellt. Die Hände zittern ihr. Sie steht in der guten Stube am Fenster und schaut dem kleinen traurigen Kinderrücken nach, während ihr die Handfläche vor Scham brennt.



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