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Aus der Welt der Literatur



2004-01-16
Die Besucherin (Maeve Brennan; Steidl Verlag, ISBN 3-88243-937-8)

"Jeder Satz ein Juwel...", so stand in einer Rezension der kürzlich neuaufgelegten Novelle der irischen Erzählerin zu lesen. Eine auf den ersten Blick eher bedeutungsarme Geschichte, beschränkt auf einen nur kurzen Lebensausschnitt, scheinbar nahezu ereignislos, doch sie läßt den dafür empfänglichen Leser nicht mehr los. Ein kleines Buch, gewiß nur für eine Minderheit an Lesern. Der besondere Dank gilt dem Verlag, der abseits der gängigen Bücherware auch solchen Kleinoden eine Nische gewährt, vermutlich weitab von jeglichen Renditeerwägungen. Die abermalige Würdigung einer in Vergessenheit geratenen Autorin, deren Leben am Ende einen überaus tragischen Verlauf nahm.

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Textauszug:

In der Stadt gibt es zwei Welten. Die eine Welt ist von Mauern umgeben, die andere von Menschen. Die zweite Welt befindet sich draußen, zusammen mit dem spätwinterlichen Himmel, den kahlen Bäumen und den harten Gehwegen, die sich in jede Richtung erstrecken, den hellglänzenden Schaufenstern und den plappernden Menschenströmen. Diese Welt hat ein blickloses, gehässiges Gesicht, das Gesicht der Menge. Das Gesicht der Menge ist nicht sofort zu erkennen, es tritt erst nach einer Weile in Erscheinung, wenn es sich in fragenden Seitenblicken und scharfem Hinsehen äußert.
Man kann nur eine bestimmte Zeit damit verbringen, den Enten auf der Rasenfläche im Stephen´s Green zuzuschauen (wo wir immer nach der Messe hingegangen sind) oder vor dem alten Eckladen am Kai in Büchern zu stöbern. Man geht, um sich allein auf eine Stadtbrücke zu stellen und aufs Wasser zu blicken, und plötzlich gleitet der Blick von rechts nach links, von links nach rechts, als wolle man sich vergewissern, ob einem jemand zusieht, irgendein Fremder, der es absonderlich findet, daß man so allein dasteht und über die Brücke schaut und nichts zu tun hat. Man muß seinen Geschäften nachgehen. Man hat keine Geduld mit einsamen, ziellosen, nachdenklichen Bummelanten, die nur dasitzen und zusehen wollen oder sich absurderweise unter die Menge mischen, welche dem unteren Ende der Straße zueilt, und die dann an der Ecke innehalten, verwirrt, richtungslos, benommen.
Selbst wenn man sich in ein Café setzt, um eine Limonade zu trinken, kommt der Zeitpunkt, wo man aufstehen und die Serviererin bezahlen, wieder auf die Straße hinaustreten und weiterziehen muß. Es geht nicht anders, als daß man wieder zu jenem Ort zurückhastet, von dem man kam, der anderen Welt, jener ersten, von Mauern umgebenen Welt.



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