Die faszinierende Welt des Wortes
Aus der Welt der Literatur
Top-Ten der Belletristik
Buch des Monats
Kontakt
Links
Kritikus
In eigener Sache
Login



Aus der Welt der Literatur



2003-07-31
Der Pferdeflüsterer (Nicholas Evans; Goldmann Verlag)

Mensch und Tier, hier: Mann und Pferd. Die Rückgewinnung des Vertrauens einer verstörten Kreatur in unnachahmlicher Weise.

---------------------------------------------------------------




Textauszug:

Grace merkte, daß Pilgrim ebenso fasziniert war wie sie. Er lief nicht länger auf und ab, sondern stand nur noch da und sah zu. Und obwohl er den Kopf in den Nacken warf und mit den Hufen auf dem Boden scharrte, richteten sich seine Ohren auf Tom, als würden sie von Gummibändern bewegt. Grace ging langsam am Zaun entlang, um einen besseren Blickwinkel auf Tom zu bekommen. Sie brauchte nicht weit zu gehen, denn Tom dreht sich um, so daß seine Schulter jetzt für Pilgrim verdeckte, was er tat. Doch soweit Grace erkennen konnte, schien er nur eine Reihe von Knoten ins Seil zu schlagen. Tom blickte kurz auf und sah sie unterm Hutrand hervor lächelnd an.
"Scheint mir ganz schön neugierig, wie?"
Grace sah zu Pilgrim hinüber. Er war mehr als neugierig. Und da er nicht mehr sehen konnte, was Tom trieb, tat er, was Grace getan hatte, und machte ein paar Schritte, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Tom hörte ihn, ging einige Schritte von ihm fort und drehte ihm auch noch den Rücken zu. Pilgrim blieb eine Weile stehen, blickte zur Seite und schien zu überlegen. Dann sah er wieder zu Tom und machte ein paar weitere zögernde Schritte auf ihn zu. Und wieder hörte Tom ihn und ging vor, so daß der Abstand zwischen ihnen fast, wenn auch nicht ganz, derselbe blieb.
Grace konnte sehen, daß Tom aufgehört hatte, Knoten ins Seil zu knüpfen, jetzt aber an ihnen zog und zerrte, und plötzlich erkannte sie, was er gemacht hatte. Es war ein einfaches Halfter. Sie konnte es nicht fassen.
"Willst du ihm das überwerfen?"
Tom grinste und sagte mit theatralischem Flüstern: "Nur, wenn er mich darum bittet."
Grace war zu aufgeregt, um sagen zu können, wie lange es gedauert hatte. Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten, aber nicht länger. Jedesmal, wenn Pilgrim auf ihn zuging, rückte Tom von ihm ab, bewahrte sein Geheimnis und reizte somit Pilgrims Neugier. Und dann blieb Tom stehen, und jedesmal, wenn er stehenblieb, hatte er den Abstand zwischen ihnen ein wenig verringert. Als sie zweimal die Runde um den Korral gemacht hatten und Tom wieder zurück in die Mitte gegangen war, standen sie höchstens noch ein Dutzend Schritte auseinander.
Dann drehte Tom sich so weit, daß er im rechten Winkel zu Pilgrim stand, arbeitete gelassen weiter am Seil und sah wohl einmal lächelnd zu Grace hinüber, warf dem Pferd aber keinen Blick zu.
Dermaßen ignoriert prustete Pilgrim laut und sah erst zur einen, dann zur anderen Seite. Schließlich machte er noch zwei, drei Schritte auf Tom zu. Grace sah, wie Pilgrim damit rechnete, daß der Mann sich wieder von ihm entfernte, doch der blieb diesmal reglos stehen. Diese Veränderung überraschte Pilgrim, und er sah sich wieder nach allen Seiten um, als wollte er schauen, ob nicht irgend etwas auf dieser Welt, Grace eingeschlossen, ihm helfen konnte, diesen Mann zu verstehen. Da er keine Antwort fand, ging er noch näher heran. Und dann noch näher. Er prustet, reckte den Hals und schnupperte, um jedwede Gefahr zu riechen, die dieser Mann verbergen mochte, und wägte das Risiko gegen das inzwischen überwältigende Verlangen ab, endlich zu erfahren, was der Mann in seinen Händen hielt.
Schließlich war er so nah, daß seine Nüstern beinahe Toms Hut berührten, und Tom mußte den Atem im Nacken gespürt haben.



<- zurück
Impressum