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Aus der Welt der Literatur



2017-06-29
Billy Budd, Matrose / Die großen Erzählungen (Verlag btb / ISBN 978-3-442-73106-0)

Es gibt das verschwiegene Böse, verborgen in der Tiefe, in den Abgründen der menschlichen Seele, nicht zu erkennen, getarnt, versteckt hinter freundlich dreiblickenden Augen, untadeligem Auftreten, unauffälliger Stimme. Doch es ist gegenwärtig, stumm, unberechenbar der Zeitpunkt, wann es ausbricht, gegen wen es sich richtet, das arglose Opfer aus dem Nichts heraus überwältigend, vernichtend, aus einem Haß heraus, den kein erkennbares Motiv nährte, der einfach nur da ist, heranreifte aus unerklärlichen Gründen. In Melvilles Erzählung „Billy Budd, Matrose“, nach seinem Welterfolg „Moby Dick“ sein wohl bekanntestes Werk, tritt dieser bedingungslose Vernichtungswille in einer den Atem stocken lassenden Weise zutage, gebiert eine Tragödie nahezu klassischen Ausmaßes.

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„Billy Budd, Matrose“
aus „Die großen Erzählungen“ von Herman Melville (btb – Verlag /
ISBN 978-3-442-73106-0)




Textauszug:

„Nun könnte man irgend etwas über Claggarts privateren Werdegang erfinden, irgend etwas, das auch Billy Budd beträfe, etwas, von dem letzterer rein gar nichts wußte, irgendein romanhaftes Ereignis, das Claggarts Bekanntschaft mit der jungen Blaujacke zu einem früheren Zeitpunkt nagegelegt hätte, noch bevor sein Auge an Bord des Linienschiffs auf ihn fiel – all das wäre nicht so schwierig und könnte wohl auf eine mehr oder minder interessante Weise dazu dienen, das Rätsel zu rechtfertigen, das hinter diesem Fall lauern mag.
In Wirklichkeit aber gab es nichts dergleichen. Und dennoch ist die Ursache, die man notwendig als die einzig denkbare annehmen muß, in ihrer entschieden realistischen Natur ebenso aufgeladen mit dem Geheimnisvollen, jenem Urelemente des Radcliffeschen Schauerromans, wie nur irgendeine Ursache, welche das Genie der Autorin der „Geheimnisse von Udolpho“ aushecken konnte. Denn was könnte geheimnisvoller sein als jene spontane und abgrundtiefe Antipathie, wie sie in bestimmten, außergewöhnlichen Sterblichen durch den bloßen Anblick eines anderen, noch so harmlosen Sterblichen hervorgerufen wird, wenn sie nicht sogar just diese Harmlosigkeit erst weckt?

…… Die authentische Übersetzung der Werke Platos enthält eine Liste mit Begriffsbestimmungen, eine Liste, die ihm zugeschrieben wird, und in der liest man dies: „Natürliche Verworfenheit: eine Verworfenheit gemäß der Natur“ – eine Definition, welche, wiewohl sie einen calvinistischen Beigeschmack hat, keineswegs Calvins Dogma betrifft, das sich auf die ganze Menschheit bezieht.

….. Aber das Merkmal, das in herausragenden Fällen eine derart außergewöhnliche Natur anzeigt, ist dies: obgleich die ausgeglichene Stimmung und das unauffällige Verhalten dieses Menschen eigentlich auf ein Gemüt hinzuweisen scheinen, das in besonderer Weise dem Gesetz der Vernunft unterworfen ist, so wütet er in seinem Herzen trotzdem in völliger Freiheit von jenem Gesetz und bedient sich anscheinend nur insofern der Vernunft, als er sie als zweischneidiges Instrument dafür einsetzt, das Vernunftwidrige zu bewirken. Will sagen: um ein Ziel zu erreichen, dessen lüsterne Grausamkeit dem Irrsinn verfallen scheint, wird er sich einer gesunden, kühlen, klugen Urteilskraft bedienen. Solche Menschen sind Geisteskranke, und zwar von der gefährlichsten Sorte, denn ihr Wahn ist nicht von Dauer, sondern bricht nur aus, wenn er von einer ganz bestimmten Person oder Sache hervorgerufen wird, er schützt sich, indem er sich verbirgt, will sagen, er ist selbstgenügsam, so daß er, wenn er am heftigsten wütet, für ein durchschnittliches Gemüt nicht von geistiger Gesundheit zu unterscheiden ist, und zwar aus dem genannten Grunde: was immer seine Ziele sein mögen – und nie wird das Ziel offen genannt - , die Methode und das äußere Vorgehen sind stets völlig vernünftig. Solch ein Mensch war Claggart, in dem die Manie einer bösen Natur wütete, nicht durch lasterhafte Erziehung oder verderblich Bücher oder liederliche Lebensweise gezeugt, sondern ihm eigen und angeboren, kurz: „eine Verworfenheit gemäß der Natur“.








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