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Aus der Welt der Literatur



2012-07-29
Kleine Erinnerungen (José Saramago / Rowohlt Verlag / ISBN 3-499-24683-8)

José Saramago (1922 - 2010), gebürtiger Portugiese, schrieb Romane, Gedichte, Novellen, Dramen, wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, erhielt 1998 den Literatur-Nobelpreis. Er war nie bequem, immer auch politisch. Teile seines Werkes gelten der katholischen Kirche als blasphemisch. Zur Zeit Salazars schloß er sich der damals verbotenen kommunistischen Partei an, für die er noch 2004 anläßlich der Europawahlen – vergeblich – kandidierte.

Saramago, unter anderem Autor des weltbekannten Romans „Stadt der Blinden“, schrieb - wie so viele andere vor und nach ihm - natürlich auch über seine Kindheit. Aus seinem schmalen Band „Kleine Erinnerungen“ stammt der nachfolgende Textauszug, der wiederum vor Augen führt, daß es die Sprache ist, die aus aneinandergereihten Wörtern erst Literatur macht.

Tausendfach, in unzähliger Fülle sind Kindheits- und Jugenderinnerungen zwischen Buchdeckel gepreßt auf dem Markt, doch nur ganz wenige von ihnen erreichen die Leser, die aus eigener Erinnerung von den meisten Dingen, die ihnen erzählt werden, schon wissen. Sie überdenken ihre eigenen Erlebnisse, tun dies in ihrer eigenen Sprache, und ihre Sprache unterscheidet sich grundsätzlich von der Sprache eines Schriftstellers, der diesen Namen verdient. Und genau darin liegt der Reiz, liegt die Faszination, die zu Büchern wie „Kleine Erinnerungen“ greifen läßt.

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Textauszug:

Regen fällt, der Wind schüttelt die entlaubten Bäume, und die Erinnerung an vergangene Zeiten ruft ein Bild wach, das Bild eines großen, hageren alten Mannes, der auf dem aufgeweichten Pfad näherkommt. Er trägt einen alten, verdreckten Mantel, einen Hirtenstab über der Schulter, und die Wasser des Himmels rinnen an ihm herab. Vor ihm trotten gesenkten Kopfes Schweine, die den Boden mit ihrem Rüssel abgrasen. Der Mann, der sich in diesem Bindfadenregen wie ein Schatten nähert, ist mein Großvater. Er ist müde, der Alte, immerhin schleppt er siebzig mühevolle Lebensjahre mit sich herum, Jahre der Entbehrungen und des Unwissens. Und doch ist er ein weiser, ein schweigsamer Mann, der den Mund nur aufmacht, wenn es etwas zu sagen gibt. Er redet so wenig, daß wir unwillkürlich verstummen und aufhorchen, sobald seine Miene sich ahnungsvoll erhellt. Er hat eine merkwürdige Art, in die Ferne zu blicken, selbst wenn diese Ferne an der Wand vor ihm endet. Sein Gesicht wirk wie gedrechselt, ist starr, aber ausdrucksstark, und die kleinen, durchdringenden Augen blitzen hin und wieder auf, als hätte er die eigenen Gedanken auf einmal verstanden.

Er ist ein Mann wie viele andere in dieser Gegend, in dieser Welt, vielleicht ein von der Last des Unmöglichen erdrückter Einstein, ein Philosoph, ein bedeutender analphabetischer Schriftsteller. Irgend etwas, das er nie sein konnte, ist er bestimmt. Ich denke an die lauen Sommernächte, in denen wir unter dem großen Feigenbaum schliefen, ich hörte ihn aus seinem Leben erzählen, von der Milchstraße, die über unseren Köpfen schien, von den Rindern, die er züchtete, von den Erlebnissen und Geschichten aus seiner fernen Kindheit. Wir schliefen spät ein, in warme Decken gehüllt, denn am Morgen würde es kühl werden. Doch das Bild, das mich heute, in dieser melancholischen Stunde, nicht mehr losläßt, ist das des Alten, der durch den Regen schreitet, unbeirrt, schweigsam, wie jemand, der sein Schicksal erfüllt, das durch nichts aufgehalten werden kann. Durch nichts als den Tod. Dieser alte Mann, den ich mit meiner Hand fast berühren kann, weiß nicht, wie er sterben wird. Noch weiß er nicht, daß er wenige Tage vor seinem Tod sein Ende ahnen wird, weshalb er in seinem Garten von Baum zu Baum geht, die Stämme umarmt und sich von ihnen ebenso verabschiedet wie von den vertrauten Schatten und den Früchten, die er nie mehr essen wird. Warum nur mußte der Tod ihn holen, ehe die Erinnerung ihn auf dem überfluteten Weg oder unter dem Himmelszelt mit der ewigen Frage nach den Gestirnen wieder zum Leben erweckte? Was werden seine Worte sein?



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