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Aus der Welt der Literatur



2011-04-12
Das Kind am Brunnen (Friedrich Hebbel)

Friedrich Hebbel (18.3.1813 – 13.12.1863) zählt zweifellos zu den bedeutenden Vertretern deutschsprachiger klassischer Literatur, ist in einem Atemzug mit Lessing, Goethe, Schiller und Kleist zu nennen, ohne jedoch zu keiner Zeit an deren Bekanntheit und Reputation ganz heranzureichen.

Unter Hebbels Lyrik finden sich auch vordergründig leichte, spielerische Gedichte, die ihre wahren, oftmals verängstigenden, geheimnisvollen Botschaften erst in der Fortdauer der Verse preisgeben. So auch in „Das Kind am Brunnen“, wo Heiteres und Düsteres so dicht beieinander liegen, das soeben erwachte Leben und der Tod sich schrecklich nahe sind.


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Das Kind am Brunnen (Friedrich Hebbel)


Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist
erwacht!
Doch die liegt ruhig im Schlafe.
Die Vöglein zwitschern, die Sonne
lacht,
Am Hügel weiden die Schafe.

Frau Amme, Frau Amme, das Kind
steht auf,
Es wagt sich weiter und weiter!
Hinab zum Brunnen nimmt es den Lauf,
Da stehen Blumen und Kräuter.

Frau Amme, Frau Amme, der Brunnen
ist tief!
Sie schläft, als läge sie drinnen!
Das Kind läuft schnell, wie es nie noch
lief,
Die Blumen locken´s von hinnen.

Nun steht es am Brunnen, nun ist es am
Ziel,
Nun pflückt es die Blumen sich munter,
Doch bald ermüdet das reizende Spiel,
da schaut´s in die Tiefe hinunter.

Und unten erblickt es ein holdes
Gesicht,
Mit Augen, so hell und so süße.
Es ist sein eigenes, das weiß es noch
nicht,
Viel stumme, freundliche Grüße!

Das Kindlein winkt, der Schatten
geschwind
Winkt aus der Tiefe ihm wieder.
Herauf! Herauf! So meint´s das Kind:
Der Schatten: Hernieder! Hernieder!

Schon beugt es sich über den Brunnen-
rand,
Frau Amme, du schläfst noch immer!
Da fallen die Blumen ihm aus der
Hand,
Und trüben den lockenden Schimmer.

Verschwunden ist sie, die süße Gestalt,
Verschluckt von der hüpfenden Welle,
Das Kind durchschauert´s fremd und
kalt,
Und schnell enteilt es der Stelle.






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