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Aus der Welt der Literatur



2003-06-21
Roman eines Kindes (Pierre Loti; Manesse Verlag, Zürich)

Textauszug:

Immer noch trafen von Zeit zu Zeit die Briefe meines Bruders auf sehr dünnem , eng beschriebenen Papier in unregelmäßigen Abständen ein, je nachdem, wann die Segelschiffe drüben über den Stillen Ozean fuhren. Es hatte welche darunter, die speziell an mich gerichtet und sogar sehr lang waren, da sie unvergeßliche Schilderungen enthielten. Schon kannte ich einige Ausdrücke der Sprache von Ozeanien mit ihren weichen Konsonanten; in den Träumen meiner Nächte sah ich oft die herrliche Insel und ging dort spazieren; sie verfolgte mich in meiner Phantasie wie ein utopisches Vaterland auf einem anderen Planeten, nach dem nan sich inbrünstig sehnt, das man aber nicht erreichen kann.
Nun erhielt ich während unseres Aufenthalts bei den Verwandten in Südfrankreich einen dieser an mich gerichteten Briefe, den mein Vater nachgesandt hatte.
Um ihn zu lesen, begab ich mich auf jene Seite des Daches, wo die Pflaumen trockneten. Mein Bruder berichtete ausführlich über einen Ort namens Fataüa, bei dem es sich um ein tiefgelegenes Tal zwischen steilen Bergen handelte: "Dort herrschte ein ständiges Halbdunkel unter hohen unbekannten Bäumen, und die kühlen Wasserfälle ließen ganze Teppiche aus seltenen Farnen sprießen..." Ja, ich konnte mir das sehr gut vorstellen, jetzt, da auch ich von Bergen und feuchten Tälern voller Farnkräuter umgeben war....Überdies waren diese Beschreibungen sehr genau und umfassend; mein Brunder ahnte nicht, wie gefährlich die Verlockung war, welche seine Briefe jetzt schon auf das Kind ausübten, das er so anhänglich gegenüber seiner Familie, so ruhig, so gläubig zurückgelassen hatte....
"Es war nur schade", schrieb er mir zum Schluß, "daß die herrliche Insel keine Tür hatte, durch die man irgendwo in den Hof unseres Hauses gelangen konnte, zum Beispiel in die große Geißblattlaube hinter den Grotten unseres Bassins..."
Diese Vorstellung einer Geheimtür in der Mauer, die zum hinteren Teil unseres Hofes führen würde, vor allem aber die Verbindung zwischen dem kleinen, von meinem Bruder eingerichteten Gartenteiche und dem fernen Ozeanien beeindruckten mich außerordentlich, und in der folgenden Nacht hatte ich einen Traum:
Ich betrat diesen Hof; es herrschte eine Todesdämmerung, so als war die Sonne für immer erloschen; in den Dingen, in der Luft lag eine jener unsagbaren, nur in den Träumen vorkommenden Verzweiflungen, die man sich im Wachzustand nicht einmal mehr vorstellen kann.
Als ich zuhinterst bei dem so sehr geliebten Bassin ankam, spürte ich, wie ich mich von der Erde abhob wie ein Vogel, der davonfliegt. Zuerst schwebte ich unschlüssig wie ein zu leichter Gegenstand, dann flog ich über die Mauer gegen Südwesten, in Richtung Ozeanien; ich entdeckte keine Flügel an meinem Körper, und ich flog rücklings - mit Schwindelgefühlen und voller Angst abzustürzen. Ich erreichte eine beängstigende Geschwindigkeit, als wäre ich ein fortgeschleuderter Stein, ein schwankender, im Leeren wirbelnder Stern; unter mir entflohen blaß und neblig Meere um Meere, immer noch in diesem Dämmerlicht einer zu Ende gehenden Welt...Und nach einigen Sekunden war ich in der Dunkelheit plötzlich von den hohen Bäumen des Fataüa-Tals umgeben: ich war angekommen.
Hier in dieser Landschaft träumte ich weiter, hörte jedoch auf, an meinen Traum zu glauben, so sehr prägte sich die Unmöglichkeit, wirklich je dort drüben anzukommen, meinem Verstand ein, und außerdem war ich allzuzoft von solchen Bildern getäuscht worden, die dann jedesmal mit dem Schlaf verschwanden. Ich fürchtete mich lediglich vor dem Erwachen, so sehr entzückte mich diese Illusion, auch wenn sie unvollständig war. Indessen waren die Teppiche aus seltenen Farnkräutern wirklich vorhanden; in der jetzt noch dichteren Finsternis pflückte ich mehr oder weniger aufs Geratewohl davon und sagte mir: "Zumindest diese Pflanzen müssen doch Wirklichkeit sein, denn ich berühre sie, ich habe sie ja in den Händen; sie können nicht entschwinden, wenn mein Traum sich in nichts auflöst." Und ich drückte sie mit aller Kraft an mich, um sicherer zu sein, daß ich sie behalten würde....
Ich wachte auf. Ein schöner Sommertag brach an; im Dorf waren allmählich die Geräusche des Alltagslebens zu hören: das unaufhörliche Gegackere der Hühner, die bereits in den Straßen herumspazierten, und das Hin- und Herrattern der Webstühle, so daß ich mir sogleich bewußt wurde, wo ich mich befand. Meine leere Hand war noch krampfhaft geschlossen, der Abdruck der Fingernägel im Fleisch noch fast zu sehen; das alles, um das vermeintliche Farnbüschel aus Fataüa, das unfaßbare Nichts des Traumes, besser behalten zu können.....



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