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Aus der Welt der Literatur



2009-01-16
Die stumme Herzogin (Dacia Maraini / Piper Verlag / ISBN 3-492-23546-8)

Für dieses Buch, das 1990 erschien und monatelang die italienischen Bestsellerlisten anführte, wurde die Autorin in ihrem Heimatland u. a. mit dem begehrten „Premio Campiello“ ausgezeichnet; es zählt zu ihren bedeutendsten literarischen Arbeiten, wurde in viele Sprachen übersetzt und auch verfilmt. Maraini, 1936 in Florenz geboren, schrieb Romane, Erzählungen, verfaßte Gedichte und auch zahlreiche Theaterstücke. Zeitlebens war sie, die heute in Rom lebt, eine streitbare, kämpferische Frau und ist es immer noch. Bekannt sind ihre zumindest zeitweiligen Sympathien für die linken Studentenbewegungen und ihre Nähe zur kommunistischen Ideologie, von der sie sich maßgebliche Unterstützung für ihr Hauptanliegen erhoffte, den Kampf um die Rechte der Frauen.

Sie gilt als eine der glühendsten Feministinnen ihres Landes, unermüdlich und unnachgiebig setzte sie sich ein gegen die Unterdrückung, gegen sexuelle Fremdbestimmung der Frau, focht für die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Liebe beiderlei Geschlechts.

In „Die stumme Herzogin“ erzählt sie die Geschichte eines Mädchens, das im Kindesalter von einem Onkel vergewaltigt und schwer verletzt wird, den es – wie Mitte des 18. Jahrhunderts auf Sizilien, wo die Handlung spielt, aber auch anderswo, durchaus nicht ungewöhnlich – mit dreizehn Jahren zu heiraten gezwungen wird. Sie wächst auf in besseren, adeligen Kreisen, kennt keine Armut, doch auch kein Glück. Infolge der Untat verlor das Mädchen Sprache und Gehör, teilt sich von nun an durch Notizen auf Zettelblocks mit, liest die Worte anderer von deren Mund oder deren beschriebenen Blättern ab. Und sie entwickelt durch ihre Taubheit ein anderes Gehör: das des Gedankenlesens, wenn sie die ihr gegenübertretenden Menschen betrachtet, ihre Gesichter absucht und deutet......

Vergleiche mit der Gegenwart braucht das Buch, braucht der Stoff nicht zu scheuen. In dramatischer Weise hat es nichts an Aktualität verloren. In weiten Teilen der Welt werden die Rechte der Frauen unverändert mit Füßen getreten. Zwangsverheiratungen im Kindesalter, straflose Vergewaltigungen, Genitalverstümmelungen und andere schlimmste Übergriffe, die tagtäglich den Nachrichten zu entnehmen sind, sprechen eine eindeutige Sprache.

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Textauszug:

„Carlo, sagt mir, erinnert Ihr Euch, ob ich jemals gesprochen habe?“
„Nein, Marianna.“
Keine Sekunde des Zögerns. Ein Nein, das dieses Gespräch beschließt. Ein Ausrufezeichen und ein Schnörkel dahinter.
„Aber ich erinnere mich, mit diesen Ohren Klänge gehört zu haben, die ich dann verloren habe.“
„Ich weiß nichts davon, Schwester.“
Und damit ist das Gespräch wirklich beendet. Er schickt sich an aufzustehen und sie zu verabschieden, doch sie rührt sich nicht. Sie dreht noch immer die Feder in ihrer Hand und befleckt sich dabei mit Tinte.
„Gibt es noch etwas?“ schreibt er und beugt sich dabei über das Notizheft der Schwester. „Die Frau Mutter hat mir einmal gesagt, ich sei nicht immer stumm und taub gewesen.“

„Was hat sie denn auf einmal? Nicht nur, daß sie daherkommt, um ihn wegen eines Dieners zu inkommodieren, in den sie womöglich verliebt ist...natürlich, warum ist ihm das denn nicht gleich eingefallen?...Sind sie beide denn nicht aus dem gleichen Stoff gemacht? Schlüpfrig und nachgiebig gegenüber den eigenen Gelüsten, immer bereit, jemandem etwas abzuluchsen, ihn hinzuhalten, zu bezahlen, weil ihnen doch kraft Geburt alles erlaubt ist?...Herrgott im Himmel, Verzeihung!...vielleicht ist es ja nur ein boshafter Gedanke...die Ucria sind stets gute Jäger und unersättliche Hamsterer gewesen...auch wenn sie dann immer auf halbem Wege steckenblieben, weil sie nicht den Mut zum Exzeß haben wie die Scebarrás...seht nur die Frau Schwester Marianna mit ihrer milchweißen Haut, ihrem weichen Mund...etwas an ihr sagt ihm, daß man sie erst noch richtig kennenlernen müßte...keine üble Sache, Schwester, in Eurem Alter...eine Tollheit...und niemand weit und breit, der sie in die Grundregeln der Liebe einführen würde...sie wird Federn lassen müssen, das ist leicht zu erkennen...er könnte ihr ja ein bißchen was beibringen, aber das sind Dinge, über die man nicht spricht zwischen Geschwistern...was für ein Angsthase war sie doch, als sie klein war, voller Ängstlichkeit und voller Fröhlichkeit...aber es stimmt, als sie vier oder fünf Jahre alt war, hat sie gesprochen...er erinnert sich sehr gut daran, und er erinnert sich auch an das Flüstern in der Familie, und wie sie sich alle erschreckt die Hand vor den Mund gehalten haben...aber warum? Was zum Teufel war denn in diesem Labyrinth der Via Alloro geschehen? Eines Abends hatte man es schreien gehört, daß einem die Gänsehaut kam, und dann wurde Marianna, die Beine voller Blut, weggetragen, ja, weggeschleift vom Vater und von Raffaele Cuffa, merkwürdig, daß keine Frauen dabei waren...es war, weil, ja, jetzt weiß er es wieder, der Onkel Pietro, dieser verdammte Bock, hatte sich über sie hergemacht und sie halb umgebracht...ja, ja, Onkel Pietro, jetzt ist alles klar, wie konnte er das nur vergessen? Aus Liebe, hatte er beteuert, aus heiliger Liebe, weil er das Kind so verehrte und „ganz verrückt“ nach ihm war...wie merkwürdig, daß ihm diese Tragödie entfallen war...

Und dann, ja, dann, nachdem Marianna wieder gesund geworden war, merkte man, daß sie nicht mehr sprach, als hätte man ihr, zack!, die Zunge abgeschnitten...der Herr Vater mit seinen Schrullen und seiner verzweifelten Liebe zu diesem Kind...er hat versucht, es wieder gutzumachen, aber er hat alles nur noch schlimmer gemacht...ein kleines Mädchen zu einer Hinrichtung zu schleppen, wie konnte ihm nur so ein Unsinn einfallen!...um sie dann, mit dreizehn Jahren, demselben Onkel zu schenken, der sie vergewaltigt hat, als sie fünf war...ein Idiot war er, der Herr Vater Signoretto...hat gedacht, da jener der Übeltäter war, kann man sie ihm ebensogut gleich zur Frau geben...Ihr kleines Hirn hat alles ausgelöscht...sie weiß nichts...ist vielleicht besser so, lassen wir sie lieber in der Unwissenheit, die arme Taubstumme...sie sollte lieber ein Glas Laudanum trinken und sich ausschlafen...er hat keine Geduld mit tauben Leuten, und auch nicht mit solchen, die sich mit eigenen Händen fesseln oder sich mit blauäugiger Dummheit dem Herrgott verschreiben...er wird sich jedenfalls nicht dafür hergeben, ihr das verkümmerte Gedächtnis aufzufrischen...es handelt sich ja schließlich auch um ein Familiengeheimnis, ein Geheimnis, das nicht einmal die Frau Mutter kannte...eine Männersache, ein Verbrechen vielleicht, aber ein längst abgebüßtes, längst begrabenes...warum es wieder aufwühlen?“

Währen er seinen geheimsten Gedanken nachgegangen ist, hat Abt Carlo seine Schwester vollkommen vergessen, die sich inzwischen erhoben hat und schon fast am Gartentor angekommen ist, und von hinten sieht es tatsächlich aus, als weine sie, aber warum sollte sie weinen? Hat er ihr denn irgend etwas aufgeschrieben? Das ist ja beinahe, als hätte sie seine Gedanken erraten, diese Närrin, wer weiß, womöglich steckt hinter ihrer Taubheit ein feineres Gehör, ein teuflisches Ohr, das fähig ist, die Geheimnisse des Geistes zu belauschen... Ich will ihr nachlaufen“, sagt er sich, „und dann werde ich sie packen und fest an die Brust drücken und ihr einen Kuß auf die Wange drücken, ja, das werde ich tun, und wollte der Himmel darüber einstürzen...“

„Marianna!“ schreit er und steht auf, um hinter ihr herzueilen.
Doch sie kann ihn nicht hören. Während er sich aus seinem Sesselchen hochzieht, in dem er versunken war, ist sie schon jenseits des Tores und steigt in die gemietete Sänfte, um sich den steilen Weg nach Palermo hinuntertragen zu lassen.










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