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Aus der Welt der Literatur



2008-03-07
Kinderseele (Hermann Hesse / Suhrkamp / ISBN 3-518-37703-5)

Hermann Hesses Werk ist nahezu ausnahmslos als autobiographisch anzusehen, als Spiegelbild seines eigenen facettenreichen, konfliktvollen Lebens. Großen Raum nimmt hierbei seine Kindheit ein, von der er in zahlreichen Büchern berichtet (so in „Peter Camenzind“, „Unterm Rad“ oder „Demian“). Ob er in der „Ich“-Form schreibt, oder seinen Protagonisten fremde Namen gibt, so erzählt er doch unverkennbar von sich, über sein Elternhaus, insbesondere von seinem Vater, mit dem ihn außerordentlich zwiespältige Gefühle verbanden. Er fühlte sich nicht in ausreichendem Maße geliebt von ihm, vermißte seine Wärme und Fürsorge, litt zutiefst unter seiner übergroßen Strenge und Verständnislosigkeit für die Welt des Kindes, des Heranwachsenden.
„Kinderseele“ überschrieb er bezeichnend die hier vorgestellte Erzählung; auf nur siebzig Seiten offenbart sie die Schmerzen, die Kindern jenseits körperlicher Gewalt zugefügt werden können, sie häufig jedoch weitaus stärker noch zu verwunden imstande sind.

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Textauszug:


Manchmal handeln wir, gehen aus und ein, tun dies und das, und es ist alles leicht, unbeschwert und gleichsam unverbindlich, es könnte scheinbar alles auch anders sein. Und manchmal, zu anderen Stunden, könnte nichts anders sein, ist nichts unverbindlich und leicht, und jeder Atemzug, den wir tun, ist von Gewalten bestimmt und schwer von Schicksal.
Die Taten unseres Lebens, die wir die guten nennen und von denen zu erzählen uns leichtfällt, sind fast alle von jener ersten, „leichten“ Art, und wir vergessen sie leicht. Andere Taten, von denen zu sprechen uns Mühe macht, vergessen wir nie mehr, sie sind gewissermaßen mehr unser als andere, und ihre Schatten fallen lang über alle Tage unseres Lebens.
Unser Vaterhaus, das groß und hell an einer hellen Straße lag, betrat man durch ein hohes Tor, und sogleich war man von Kühle, Dämmerung und steinern feuchter Luft umfangen. Eine hohe, düstere Halle nahm einen schweigsam auf, der Boden von roten Sandsteinfliesen führte leicht ansteigend gegen die Treppe, deren Beginn zuhinterst tief im Halbdunkel lag.
Viele tausend Male bin ich durch dies hohe Tor eingegangen, und niemals hatte ich acht auf Tor und Flur, Fliesen und Treppe: dennoch war es immer ein Übergang in eine andere, in „unsere“ Welt. Die Halle roch nach Stein, sie war finster und hoch, hinten führte die Treppe aus der dunklen Kühle empor und zu Licht und hellem Behagen. Immer aber war erst die Halle und die erste Dämmerung da: etwas vom Vater, etwas von Würde und Macht, etwas von Strafe und schlechtem Gewissen. Tausendmal ging man lachend hindurch. Manchmal aber trat man herein und war sogleich erdrückt und zerkleinert, hatte Angst, suchte rasch die befreiende Treppe............................


.............Vielleicht zum ersten Mal in meinem kindlichen Leben empfand ich fast bis zur Schwelle der Einsicht und des Bewußtwerdens, wie namenlos zwei verwandte, gegeneinander wohlgesinnte Menschen sich mißverstehen und quälen und martern können, und wie dann alles Reden, alles Klugseinwollen, alle Vernunft bloß noch Gift hinzugießen, bloß neue Qualen, neue Stiche, neue Irrtümer schaffen. Wie war das möglich? Aber es war möglich, es geschah. Es war unsinnig, es war toll, es war zum Lachen und zum Verzweifeln – aber es war so.
Genug nun von dieser Geschichte! Es endete damit, daß ich über den Sonntagnachmittag in der Dachkammer eingesperrt wurde. Einen Teil ihrer Schrecken verlor die harte Strafe durch Umstände, welche freilich mein Geheimnis waren. In der dunkeln, unbenutzten Bodenkammer stand nämlich tiefverstaubt eine Kiste, halb voll mit alten Büchern, von denen einige keineswegs für Kinder bestimmt waren. Das Licht zum Lesen gewann ich durch das Beiseiteschieben eines Dachziegels.
Am Abend dieses traurigen Sonntags gelang es meinem Vater, kurz vor Schlafengehen mich noch zu einem kurzen Gespräch zu bringen, das uns versöhnte. Als ich im Bett lag, hatte ich die Gewißheit, daß er mir ganz und vollkommen verziehen habe – vollkommener als ich ihm.






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