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Aus der Welt der Literatur



2007-04-18
Das Land der spitzen Tannen (Sarah Orne Jewett / Manesse Verlag )

Sarah Orne Jewett (1849 – 1909) schrieb dieses Buch 1896; der hier wiedergegebene Text stellt die letzten Seiten ihrer autobiographisch geprägten Erzählung „Das Land der spitzen Tannen“ dar, ihres wohl bekanntesten Werkes.
Eine junge Frau – sie selbst – verläßt die selbstgesuchte Abgeschiedenheit eines kleinen, wie vergessen anmutenden Dorfes hoch oben an der amerikanischen Ostküste, wo sie Ruhe und Abstand fand, eben jene unglaublich leise, feinfühlige Geschichte zu schreiben. Wo sie auf kauzige, wunderliche und doch liebenswerte Menschen stieß, deren kleine Welt sie mehr und mehr einnahm. Dann der Tag der Abreise. Schöner, beglückender, auch leichter kann Sprache nicht eingesetzt werden, um Gefühle, um Stimmungen und Empfindungen auszudrücken. Literatur in ihrer reinsten, erhabensten Form. Inzwischen sind hundert Jahre vergangen, doch Sarah Orne Jewett ist unvergessen.
(Das Buch ist derzeit nur über Antiquariate beziehen)


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Textauszug:


Ich sollte den kleinen, stets unpünktlichen Dampfer nehmen, der am Nachmittag aus der Bucht fährt, und ich saß ein Weilchen am Fenster und blickte auf den grünen Kräutergarten und sehnte mich nach Gesellschaft. Mrs. Todd hatte den ganzen Tag kaum gesprochen, und wenn, dann nur knapp und mißbilligend; es sah aus, als stünden wir dicht vor einem Streit. Es schien unmöglich, in Gelassenheit abzureisen. Endlich hörte ich einen Schritt, und als ich mich umblickte, stand Mrs. Todd in der Tür.
„Ich habe mich jetzt um alles gekümmert“, sagte sie mit ungewöhnlich lauter und geschäftsmäßiger Stimme. „Ihre Koffer sind an die Schiffslände gebracht worden. Kapitän Bowden ist persönlich gekommen, um sie abzuholen, und er sorgt dafür, daß sie sicher an Bord gelangen. Ja, es ist alles vorbereitet“, wiederholte sie mit sanfterer Stimme. „Die Sachen, die ich auf dem Küchentisch gelassen habe, tragen Sie wohl in der Hand; der Korb braucht nicht zurückgegeben zu werden. Ich glaube, ich gehe jetzt nach Port und frage, wie es der alten Mis` Edward Caplin geht.“
Ich blickte meiner Freundin ins Gesicht und sah einen Ausdruck, der mir ans Herz griff. Ich war schon vorher traurig genug gewesen, weil ich abreisen mußte.
„Sie werden mir wohl verzeihen, wenn ich nicht unten an der Schiffslände herumstehe, um Sie abfahren zu sehen“, sagte sie und versuchte immer noch, schroff zu sprechen. „Ich sollte wirklich nach Port hinübergehen und mich nach Mis` Edward Caplin erkundigen; sie hat ihren dritten Schlag gehabt, und wenn Mutter am Sonntag herkommt, will sie sicher gern wissen, wie´ s der alten Dame geht.“ Beim letzten Wort drehte sich Mrs. Todd um und verließ mich, als ob ihr plötzlich etwas eingefallen wäre, das sie vergessen hatte, so daß ich überzeugt war, sie würde wiederkommen, doch dann hörte ich, wie sie aus der Küchentür trat und den Gartenweg zur Pforte hinabging. So konnte ich nicht von ihr scheiden; ich lief ihr nach, um ihr Lebwohl zu sagen, aber sie schüttelte den Kopf und winkte mit der Hand, ohne sich umzusehen, sowie sie meine hastigen Schritte hörte, und ging die Straße hinunter.

Als ich wieder hineinging, war das kleine Haus plötzlich einsam geworden, und mein Zimmer sah so leer wie am Tage meiner Ankunft aus. Ich und all meine Sachen waren ihm schon gestorben, und ich wußte nun, wie es sein würde, wenn Mrs. Todd heimkehrte und sah, daß ihre Mieterin fort war. So sterben wir vor unsern Augen; so sehen wir ein paar Kapitel aus unserm Leben ihrem natürlichen Ende zueilen.
Ich fand die kleinen Päckchen auf dem Küchentisch. Da stand ein merkwürdiger Korb aus Westindien, den die Besitzerin sehr geliebt hatte, wie ich wußte, und den ich einmal bewundert hatte; daneben lag ein rührender Mundvorrat für mein Abendbrot auf See und ein hübsch gebundener Strauß Eberraute und ein Zweig von der Wachsmyrte, und dann noch ein kleines altes Lederetui mit der Korallennadel, die Nathan Todd von der Seereise heimgebracht hatte, um sie der armen Joanna zu schenken.

Ich hatte noch eine Stunde Zeit, und daher ging ich auf die Anhöhe oberhalb des Schulhauses und saß da und sann nach und blickte aufs Meer hinaus und paßte auf, ob der Dampfer in Sicht käme. Ich konnte Green Island sehen: klein und dunkel bewaldet lag es in der Ferne. Unter mir waren die Häuser des Dörfchens mit ihren Apfelbäumen und kleinen Stückchen Gartenland.
Und dann, als ich jenseits über das Weideland schaute, erhaschte ich einen letzten Blick auf Mrs. Todd, wie sie langsam auf dem Fußpfad weiterwanderte, der dem Ufer folgte und nach Port führte. Auf eine solche Entfernung kann man die großen, positiven Eigenschaften spüren, die einen Charakter ausmachen. Aus der Nähe schien Mrs. Todd tüchtig und warmherzig, und emsig in ihrem kleinen Gewerbe aufgehend, doch ihre ferne Gestalt schien allein und wie um einen Gefährten klagend und hatte doch etwas seltsam Selbstgenügsames und Rätselhaftes an sich. Dann und wann bückte sie sich, um etwas zu pflücken – vielleicht ihre geliebte Polei-Minze – , und schließlich verlor ich sie aus den Augen, als sie langsam eine höher gelegene Lichtung überquerte und hinter einem dunklen Wacholdergebüsch und den spitzen Tannen verschwand.

Als ich auf dem kleinen Küstendampfer abfuhr, hatten wir Seegang, so daß die Brandung an allen felsigen Klippen hochsprang. Ich stand an Deck und blickte zurück und sah den geschäftigen Möwen zu, die mitflogen und wendeten und gemeinsam auf langen Lufthängen zu Tal glitten und sich hastig trennten und auf die Wochen stürzten. Die Flut setzte ein, und mit ihr kamen viele kleine Fische herein, die nichts ahnten von den Silberblitzen der großen Vögel über ihnen und der Schnelligkeit ihrer wilden Schnäbel. Die See war voller Leben und Temperament, die Kämme der Wogen schnellten zurück, als wären sie so beschwingt wie die Möwen und als hätten sie wie die Möwen die Freiheit des Windes.

In der Hauptmeerenge fuhren wir an einem alten Fischer mit gebückten Schultern vorbei, der vor seinen Hummerkörben die Abendrunde machte. Er mühte sich mit kurzen Rudern weiter, und sein kleines Boot stieg und sank und stieg wieder auf den Wellen, die der Dampfer machte. Ich sah, daß es der alte Elijah Tilley war, und obwohl wir uns so lange fremd blieben, waren wir schließlich gute Freunde geworden, und ich wünschte, er hätte auf einen von seinen Kameraden gewartet, denn es war schwere Arbeit , durch grobe Seen an der Küste entlang zu rudern und allein die Hummerfallen zu versehen. Im Vorbeifahren winkte ich ihm und versuchte, ihn anzurufen, und er blickte auf und antwortet auf meinen Abschiedsgruß mit feierlichem Kopfnicken. Ein paar Minuten noch ragte der kleine Ort mit den hohen Masten seiner abgetakelten Schoner in der inneren Bucht hoch über die flache See, dann versank er in der Einförmigkeit des Ufers und wurde ununterscheidbar von anderen Orten, die auf dem ginstergrünen Steinstrand wie hingekrümelt erschienen.
Die kleineren Außeninseln der Bucht waren zwischen den Felsenbändern mit einem Rasen bedeckt, der so frisch wie das erste Frühlingsgras aussah; in der vergangenen Woche hatte es ein paarmal geregnet, und das dunklere Grün der Süßdolden war über alle Hochweiden verstreut. An Land sah es aus, als beginne der Sommer, obwohl die Schafe, die schon rund und warm in ihrer Winterwolle steckten und im Schein der tiefstehenden Nachmittagssonne längs der Hänge grasten, die eigentliche Jahreszeit verrieten. Nun begann der Wind zu wehen, und wir nahmen Kurs auf die offene See, um das lange, schützende Vorgebirge des Kaps zu umsegeln, und als ich noch einmal zurückblickte, verschwammen Vorgebirge und Inseln miteinander, und Dunnet Landing mit seiner ganzen Küstenlinie war nicht mehr zu sehen.






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