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Aus der Welt der Literatur



2005-10-30
Tagebucheintrag von Georg Heym (Georg Heym Lesebuch /Verlag C.H. Beck / ISBN 3-406-09816-9)

Heym zählt zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern des zwanzigsten Jahrhunderts. Mißverstanden, verkannt, untüchtig für ein Leben, wie es ihm die Eltern zugedacht hatten, ist seine Lyrik durchsetzt von Untergangsphantasien, von Ängsten und Zweifeln. Selbsttötungsgedanken nehmen in starkem Maße Besitz von ihm. Im Alter von nur vierundzwanzig Jahren ertrinkt er am 16. Januar 1912 beim Schlittschuhlaufen auf der Havel, als er – so die Überlieferung – den im Eis eingebrochenen Freund zur Hilfe eilt.

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Textauszug:

26.06.1910
Ohne Zweifel ist die Idee eines morallosen Schicksals tiefer als die eines moralischen – moralisch zu sein gezwungenen – Gottes.
Welch eine Wendung durch Gottes Fügung? Warum, wieso durch Gottes Fügung? Hatte Napoleon nicht dasselbe Anrecht auf diese Fügung.
Ich führe den Beweis, daß kein Gott existiert, wenigsten kein guter Gott. Einer Witwe sterben alle Kinder nach und nach fort. Sie bittet jede Nacht, ihr das letzte zu erhalten. Es stirbt. Warum? Was ist hier die moralische Idee? Man wendet das jämmerliche Wort ein: Gottes Gedanken sind höher als die Gedanke der Menschen. Was hätte jeder höhere Gedanke hier für einen Sinn, wenn er nicht einmal diese einfache schlechte Forderung erfüllt.
Wäre ein guter Gott, sein Herz hätte ihm zittern müssen bei so viel Leid; er hätte nicht nur den Sohn im Leben behalten, er hätte alle toten Söhne aus den Knochenhäusern kommen heißen. Der gute Gott sitzt oben hinter den Wolken und rührt sich nicht. Da ist alles Stein, taub, hohl und leer.
Viel eher ist die Idee eines bösen Gottes oder eines bösen Schicksals möglich. Denn alles, was geschieht, ist und wird böse. Das Glück ragt kaum aus dem Staube hervor, nicht mehr wie ein Goldstäubchen in einer Sandwüste. Warum hält sich die Macht immer versteckt, warum zeigt Er sich nie, he? Weil er liebelos ist, kalt und stumm wie die Wolkenbilder, die ewig die der Erde abgewandten Köpfe vor sich hertragen, als wüßten sie um ein schreckliches Geheimnis und müßten es durch alle Zeiten mit sich tragen zu einem dunklen unbekannten und weiten Ziel.


(Das Buch erschien 1984 und ist über Antiquariate, am ehesten vermutlich über das „Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher“ – ZVAB – ; siehe unter „Links“ – zu erwerben)



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