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Aus der Welt der Literatur



2005-01-11
Die grauen Seelen (Philippe Claudel /Rowohlt Verlag / ISBN 3-498-00930-3)

Eine kleine Stadt in Lothringen, unweit der im Stellungskrieg erstarrten Front. Abseits der Sterbens im Granatfeuer gibt es ein eigenes, ein anderes, ein kaum weniger schicksalhaftes Leben. Claudel, dessen Roman in Frankreich im Jahr seiner Veröffentlichung (2003) zum Buch des Jahres erklärt wurde und monatelang die Bestsellerlisten anführte, schreibt leise Sätze, oftmals kurzgefaßt, unaufgeregte Sätze, die dem Leser gleichwohl den Atem verschlagen.

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Textauszug:

Es war spät geworden. Ich legte Decken und eine Matratze in einer Ecke der Küche bereit. Es war mir gelungen, Joséphine davon zu überzeugen, daß sie mit mir nach V. kommen sollte, um Mierck alles zu berichten. Wir wollten im Morgengrauen aufbrechen. Sie schlief ein wie ein Stein und murmelte im Schlaf einige Worte, die ich nicht verstanden habe. Von Zeit zu Zeit donnerte eine Kanone, aber ohne rechte Überzeugungskraft, nur um daran zu erinnern, daß sie noch da war, wie ein Glockenschlag des Unheils.

Ich habe mich nicht ins Schlafzimmer gewagt. Ich hatte Angst, ich würde Lärm machen und Clémence aufwecken. Ich setzte mich in einen Sessel, den ich noch immer habe und der mich manchmal an eine große zarte Hand erinnert, in die ich mich schmiege. Im Kopf bewegte ich hin und her, was Joséphine mir erzählt hatte. Dann schloß ich die Augen.

Beim Morgengrauen sind wir aufgebrochen. Clémence war aufgestanden, hatte uns eine Kanne mit kochend heißem Kaffe gemacht und warmen Wein in eine Flasche gefüllt. An der Tür verabschiedete sie uns mit einem Handzeichen und lächelte mich an, mich allein. Ich ging einige Schritte auf sie zu. Ich hatte große Lust, sie zu küssen, wagte es aber nicht vor Joséphine. Daher habe ich ihren Gruß erwidert. Und das war alles.
Seitdem ist nicht ein Tag vergangen, an dem ich diesen versäumten Kuß nicht bereut hätte.
„Gute Reise“, hat sie gesagt. Das waren ihre letzten Worte. Sie sind meine Schätze. Ich trage sie unversehrt in den Ohren und spiele sie mir jeden Abend vor. Gute Reise.... Die Erinnerung an ihr Gesicht habe ich verloren, aber nicht die an ihre Stimme, das schwöre ich.



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