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Aus der Welt der Literatur



2004-11-15
Pomona (Gertrud Leutenegger / Suhrkamp Verlag / ISBN 3-518-41603-0)

„Pomona“ ist die Göttin der Früchte, und einer Metapher gleich prägt der Name den kürzlich herausgebrachten Roman der schweizer Autorin, die – obwohl zahlreiche Werke von ihr erschienen sind – in Deutschland wenig bekannt ist, und um die es auch in ihrem Heimatland stiller geworden war. Leutenegger erzählt von einer Frau, deren Leben – wie das der Heerscharen anderer Menschen ebenfalls – einen anderen Verlauf nimmt, als es sich das kleine Mädchen wohl einst erträumte. Am Ende bleibt die Flucht vor einer gescheiterten Beziehung, die Abwendung von einem schwärmerischen, lebensuntüchtigen Mann und die Erkenntnis, daß ihr der wesentliche Teil ihres Lebens auf diese Weise für immer verlorengegangen ist. Kindheitserinnerungen tauchen auf, nehmen fast wahnhafte Ausmaße an. Die Rückbesinnung auf die Mutter und deren manische Formen annehmende Hinwendung zu Apfelsorten schier zahlloser Art, deren Einlagerung, Behandlung und Verzehr bestimmen fortan unablässig ihre Gedankenwelt, nachgerade ihr weiteres Leben. Ihrer eigenen Tochter, noch im Mädchenalter, erzählt sie unablässig von vergangenen Tagen und läßt sie teilhaben an den ihr widerfahrenen wunderlichen, bisweilen skurrilen Begebenheiten. Es ist eine dunkle, eine stille Welt, über die Leutenegger schreibt, und sie tut dies in langen, langen Sätzen und so gut wie ohne wörtliche Dialoge. Sie macht es dem Leser nicht leicht, sie zu verstehen. Doch sie lieferte ein Buch ab, das - fernab von auflagenbestimmten Bestenlisten - zur bemerkenswerten Literatur der letzten Zeit gezählt werden darf.

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Textauszug:

Meine Zwiesprache mit Sirio, von Fenster zu Fenster am Abend, war unterbrochen. In jenen Tagen muß meine Beziehung zu unserer Katze jene stumme Intensität entwickelt haben, die ihr vielleicht das Leben verkürzt hat. Es begann in der Neujahrsnacht nach dem Tod meiner Mutter, als ich allein im Dunkeln am Fenster stand, um die Mitternachtsglocken vom anderen Seeufer zu hören, als auf einmal hinter mir die angelehnte Tür aufging. Die Katze blieb auf der Schwelle stehen und schaute mich unverwandt an. Eine schwache Nachthelligkeit ließ die Gegenstände im Raum deutlich hervortreten, ich sah sogar das Glänzen in den Augen der Katze, ihren großen, grünlichgelben Mandelaugen. Erst als ich mich angekleidet aufs Bett legte, sprang sie mit einem Satz zu mir herauf, ließ sich vollkommen langgestreckt neben mir nieder und setzte sachte ihre Pfote auf mein Gesicht. Regungslos verharrten wir so zusammen, sie schien mir wie teilzuhaben an einer jenseitigen Welt, aus der sie mir tröstliche undechiffrierbare Nachrichten vermittelte, und ich übergab ihr meine Trauer, und sie nahm sie mit hinüber, so wie ich ihr später vielleicht meine Krankheit übertrug, an der sie sterben sollte, während es mir grausam vorkam, daß ich überlebte. Doch in jener Neujahrsnacht war der Abend noch weit, da sie auf derselben Schwelle saß, als ich mit meinem Köfferchen fürs Krankenhaus nochmals durch die Wohnung ging und die letzten Lampen auslöschte und sie mich nicht aus den Augen ließ, bis ich mich bückte, um sie ein letztes Mal zu streicheln und mit Grauen entdeckte, daß irgendwelche weiße Schuppen ihr wie Schnee durch das langhaarige Fell rieselten, wie wellenartiges Zittern über ihren Rücken lief und sie schon von jenem Verfall erfaßt war, der sich nach meinem Weggang ihrer so heftig und rapid bemächtigte, daß ich sie nie mehr wiedersehen sollte. Aber noch waren es die Zeiten unserer glücklichen Spiele; während die Katze ihre Pfoten auf meiner Wange ruhen ließ, kraulte ich ihr weiches rahmfarbenes Fell, als vergrübe ich meine Hand in die knisternde Wärme des Guanakofells vor dem Bett meiner Mutter; plötzlich rollte die Katze auf den Bauch und wieder zurück und biß mir genußvoll und mit Nachdruck in den Handrücken. An anderen Abenden ging ich auf den Friedhof, der mit seinen häuserartigen Grabkapellen eine wirkliche kleine Totenstadt bildete und so nah von uns hinter dem Kirchplatz lag, daß wir an Allerheiligen vor dem Einschlafen die angezündeten Lichter flackern sahen, als wären dort alle noch wach und unterhielten sich miteinander. An heißen Sommermittagen glühte jeder einzelne Stein, Lavendelbüsche und wilder Wermut kochten betäubende Düfte aus, die Fotomedaillons beschlugen sich von innen her mit verdampfender Feuchtigkeit.



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