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Aus der Welt der Literatur



2004-09-22
Die Klatschmohnfrau (Noèlle Châtelet / Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3-462-02997-5)

Ein spätes, ein kaum noch erahntes und wohl auch nicht mehr für möglich gehaltenes Glück, das eine Siebzigjährige durch einen Mann erfährt, der ihr im Alter noch beträchtlich voraus ist. Zögerliches, banges Erwarten, das Hineinlauschen in den Körper auf Regungen, die längst für immer gegangen schienen, schließlich Akzeptanz und vorbehaltloses, selbstvergessendes Aufgehen in die wundersame Zwischenwelt von Mann und Frau...fast berührt das Buch von Châtelet ein Tabu, die oftmals verdrängte und schamhaft verschwiegene Liebe und Sexualität älterer Menschen. Die Jungen werden es oft nicht wissen wollen, wenn sie ihre Eltern oder, mehr noch, ihre Großeltern betrachten, doch insgeheim ahnen sie, daß eines nicht fernen Tages auch sie sich jenen verheimlichten Dingen stellen müssen.

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Textauszug:

Félix hat sich aufs Bett gesetzt. Er blickt Marthe fragend ins verstörte Gesicht.
"Kann ich etwas für Sie tun?"
Und nun betrachtet Marthe dieses alte Gesicht, das sich über sie beugt. In den dunklen, erstaunlich leuchtenden Augen glimmt es feurig.
"Vielleicht kann ich etwas tun...", sagt er diesmal in einem anderen Tonfall, nicht mehr fragend, sondern bekräftigend.
Marthe nickt mit dem Kopf, bejaht mit den Augen, mit den Händen, mit dem Herzen, bejaht aus ganzer Seele wie die Klatschmohnfrau auf dem großen Boulevard.
Da steht der Mann mit den tausend Halstüchern auf.
Marthe sieht seine Bewegungen wie in Zeitlupe, als träume sie.
Zunächst zieht er die Vorhänge zu, und das Schlafzimmer verwandelt sich in einen Alkoven, in dem weitere Blumensträuße auf sie herabzuregnen scheinen.
Dann entkleidet er sich langsam, und jede seiner Gesten scheint Marthes entschlossenes, aber ein wenig zitterndens Warten in eine Ewigkeit zu verwandeln.
Alle Halstücher fallen, bis er nackt ist.
Marthe denkt an nichts mehr. Sie sagt sich nur noch: "Ich liebe diesen nackten alten Mann, der sich meinem Bett nähert."
Sie ist sich dessen so sicher, daß sie sich auf der geblümten Tagesdecke ebenso langsam, ebenso ungezwungen entkleidet, bis auch sie nackt ist.
Marthe denkt an nichts mehr. Sie sagt sich nur noch: "Auch er liebt die nackte alte Frau, die auf dem Bett auf ihn wartet..."
Die beiden Körper finden zueinander.
Ihre Haut, jahrelang geschliffen von der Zeit, ist sanft und verbraucht, glatt wie die Kiesel am Strand.
Marthe fühlt sich wie ein Kiesel, überläßt sich dem Rollen der Wellen. Bei jeder Woge sieht sie in der Ferne Edmonds Kopf, der immer trübseliger im Glasrahmen auf der Kommode hin- und herschwankt. Der arme Edmond, Edmond der Unfähige...
Sie ist noch nie so getaumelt, außer an dem Tag, als sich auf dem Gehweg vor den "Trois Canons" eine gewisse Hand ihres willigen Arms bemächtigte.
Die heutige Dünung läßt die Flut steigen. Bald wird sie ihren höchsten Punkt erreicht haben, denn dieselbe Hand hat mit einer Sturzsee den Kiesel, den Marthe geschlossen glaubte, direkt in der Mitte gespalten.
Und wieder dieser leise Schrei. Nicht vor Schmerz, nein, eher vor Überraschung. Und in den Augen des Mannes mit den tausend Halstüchern liegt wieder Stolz, denn diesmal weiß er, daß er zu dieser Regung etwas beigetragen hat. Genau diesen leisen Schrei wollte er ihr entlocken, diesen und keinen anderen.
An ihrer rechten Hüfte, der gesunden, der jugendlichen Hüfte, spürt Marthe, wie die Freude größer wird, die Freude des geliebten Mannes namens Félix.
"Ich bin Félix, stets zu Ihren Diensten!" Hatte er sich nicht so vorgestellt?
Und einen solchen Liebesdienst erlebt sie zum ersten Mal in ihrem Leben als Frau, als Klatschmohnfrau.



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